GELASSENHEIT
Wir leben in einer sehr aufgeregten Welt. So viele neue Impulse und so viele Möglichkeiten. Es ist eine FOMO-Zeit geworden. FOMO steht dabei für „Fear of Missing Out”. Wir könnten ja etwas verpassen, wenn so viele Dinge um uns herum passieren und darüber auf allen Kanälen zu jeder Zeit gesendet wird. Ich mag Neuigkeiten und Innovationen und ich mag die vielen Möglichkeiten, die sich uns bieten.
Mein erster Besuch bei Clubhouse hatte gleich ein kleines soziales Projekt zur Folge, das im Verlauf einer Woche viel Gutes bewirken konnte. Ich werde mich weiter dafür interessieren, aber ich vermeide es, daraus Stress entstehen zu lassen. Menschen mit FOMO sind selten gelassen und glücklich, denn auch FOMO ist eine Angst und Angst ist immer ein schlechter Weggefährte. Da bevorzuge ich ein Leben ohne Angst.
Der Weg dorthin führt über die Gelassenheit. In dieser Woche habe ich über Konzentration und Meditation geschrieben. Beides fördert unsere Gelassenheit. Statt der FOMO nachzugeben, sollten wir uns eher darüber Sorgen machen, zu hektisch durchs Leben zu gehen und dabei zu verlernen, das Leben zu spüren. Gelassenheit ist nicht das Gleiche wie Besonnenheit (neben der Weisheit eine zweite Kardinaltugend). Darüber schreibe ich nächste Woche. Gelassenheit bedeutet die Fähigkeit, loszulassen und in den Strom des Lebens einzutauchen. Wer meint, überall sein zu müssen, wird nirgends wirklich sein. In einem meiner Lieblingsbücher („Die Möwe Jonathan”) geht es um das „Sein”. Neil Diamond schrieb die Titelmusik zur Verfilmung. Ich mag besonders sein Lied „Be”.
Wir sind oft so damit beschäftigt, Dinge zu erreichen, zu kaufen und zu besitzen. Aber alles, was wir besitzen, besitzt auch uns. Daher war Gelassenheit auch ein zentraler Wert der Stoiker. Als deren bekanntester Vertreter gilt Diogenes, der in einem Fass lebte und sich jeden Tag über die Sonne freute und bei Regen über das Dach, das ihm seine Unterkunft bot. Eines sonnigen Tages kam eine Schar Reiter des Weges, beeindruckend anzusehen. Ein Kaiser, der seine Streitmacht anführte und seinerzeit der mächtigste Mensch überhaupt war. Es handelte sich um Alexander den Großen. Sein Reich war so ausgedehnt, dass die Sonne dort nicht unterging. Alexander war in seiner Jugend Schüler von Diogenes und er erkannte seinen weisen Lehrer, den er sehr schätzte. „Oh Diogenes, mein großer Lehrer, ich sehe, Du lebst hier arm in einem Fass”, soll er sinngemäß gesagt haben. „Du hast einen Wunsch frei, was immer Du Dir wünschst, es soll Dir zuteil werden.” Diogenes blinzelte und blickte voller Stolz auf seinen Schüler, in dessen Schatten er gerade saß. „Oh großer Herrscher, es ist wahrlich etwas Großes aus Dir geworden und Du erfüllst mich mit Stolz. Ja, ich habe eine Bitte an Dich.” So richtete der Lehrer seine Worte an seinen ehemaligen Schüler. „Was immer es auch sei, Du sollst es erhalten”, antwortete Alexander, der immer noch die Weisheit seines Lehrers schätzte. Ein solcher Wunsch hätte Reichtum über Generationen hinweg bedeuten können. „Großer Kaiser, wenn ich bescheiden einen Wunsch an Dich stellen darf, so ist es dieser: Bitte gehe mit Deinem Pferd ein Stück zur Seite, Du verdeckst gerade die Sonne.” Das war der Wunsch des Diogenes und ein verblüffter Kaiser blickte direkt auf den Kern der Weisheit seines Lehrers. Denn er verstand, dass er nie genug haben wird, und sein Lehrer schon den ganzen Reichtum in seinem Herzen trägt.
Diese berühmte Überlieferung beschreibt am besten den Wert der Gelassenheit. Es ist ein sehr wichtiger Wert in einer Welt, in der sich scheinbar jeder über jeden aufregt. Ein bisschen mehr Gelassenheit täte uns gut, denn sie führt uns zu einer friedlicheren und schöneren Welt.
Das wirkliche „Sein” spüren wir nur durch Gelassenheit und die Fähigkeit, vieles loslassen zu können. Erst wenn wir loslassen, haben wir die Hände frei. Daher habe ich eher die FODA, die „Fear of Doing All”. Zu viel, zu schnell, zu hoch … das führte mich stets weg von den wirklich wichtigen Dingen im Leben.